Teil 35: Familie sein

1. Für mich sind die Fronten klar. Ich bin lesbisch. Ich bin Single. Gianni ist ein guter Freund. Wir hatten nie Sex. Mein Umfeld weiss das. Manchmal, so habe ich den Eindruck, muss ich mich rechtfertigen, dass Gianni und ich uns gut verstehen. Manchmal, so scheint mir, muss ich fast beweisen, dass nichts Partnerschaftliches zwischen uns ist. Manchmal, so glaube ich, würden wir gern als Paar gesehen. Meistens nerven mich diese Umstände, denn sie kommen von aussen und haben mit dem Innen nichts zu tun. Von Freunden, neuen Leuten oder aus der Familie. Bei mir bewirkt das ein Augenrollen. Sichtbar oder auch nicht. Letztendlich beeinträchtigt mich das wenig. Für mich sind die Fronten klar. Ich führe nur selten einen Nahkampf. Ich betreibe lieber Familyship.

Teil 35: Familie sein

2. Nach dem ersten Augenaufschlag und dem ersten Hallo und Guten morgen der Griff zum Telefon, wir sind wach. Ist gut, ich frühstücke noch zu Ende und dann komme ich vorbei antwortete es und 20 min später klingelte es. Nach Hallo und ja, alles gut, ging ich duschen und Milla bekam von Gianni eine frische Windel und die Kleidung für den Tag, er pürierte Apfel und Banane und als ich fertig war sprangen wir ins Auto und düsten los. Ich zum Zahnarzt, Milla und er in den Park und danach er zur Arbeit und ich mit Milla zur Krabbelgruppe.

3. Es war irgendein Tag in der Woche. Es regnete. Bindfäden. Als ich aufwachte, dachte ich, ach wie gemütlich. Ich war ein bisschen unausgeschlafen, Milla hatte letzte Nacht zweimal häufiger Durst gehabt als üblich und noch dazu war sie eine Stunde früher aufgewacht als erwartet. Ich allerdings war eine Stunde später ins Bett gegangen als sonst. Aber das machte ja nichts.

Es regnete Bindfäden und erst am Nachmittag hatten wir eine Verabredung zum Kaffeetrinken. Gianni wollte heute erst spät kommen um Milla abzuholen, er arbeitete heute lange. Ich blieb also noch etwas liegen mit ihr und hatte die leise Hoffnung, dass sie vielleicht sogar noch einmal kurz wieder einschliefe. Wir lagen also im Bett, bis sie sich schließlich wehrhaft in meinem Arm wand, trat, kratzte und quiekte. Raus. Schnell. Ich nahm sie hoch und ging mit ihr zum Spiegel, einmal kurz die beiden Spiegelmonster angeschrien, das machte ihr Spass, und dann legte ich sie zurück in ihr Bett. Ich musste duschen. Als ich mich auszog, begann sie zu quengeln, während ich die Haare einseifte, begann sie zu schreien. Ich sang ihr ein Lied und versuchte lauter zu sein als sie. Schließlich sprang ich klatschnass ins Schlafzimmer, nahm Milla in den Arm, beruhigte sie, legte sie zurück, gab ihr ein anderes Spielzeug und ging wieder ins Bad. Als ich nach meinem Handtuch griff, kam ein spitzer Schrei aus dem Kinderzimmer, ich rannte zurück. Milla hing kopfüber zwischen Bett und Heizung. Ich griff die zappelnden Füße und nahm Milla auf den Arm, beruhigte sie, legte sie zurück, gab ihr ein anderes Spielzeug und deckte den Abgrund mit dem Bettzeug ab. Ich war also wieder im Bad und holte den Föhn, da kam ein erneuter Schrei aus dem Kinderzimmer. Milla hatte diesmal nichts. Lachte, als ich angelaufen kam. Ich trug nun die Babywippe ins Bad. Legte Milla hinein. Dann kämmte ich mir die Haare. Milla quengelte. Ich schaltete den Föhn ein. Milla lächelte, wenn ihr der warme Luftstrahl ins Gesicht blies. Ansonsten quengelte sie. Danach trug ich die Babywippe in die Küche. Die Banane bekam ich schnell in den Becher, der Apfel hingegen musste geschält werden. Milla quengelte. Ich holte das Handy und fand Kinderlieder bei Spotify. Das genügte für den Apfel. Und das Pürieren gelang auch. Ich fütterte Milla in ihrem Hochstuhl. Sie wurde müde. Ich auch. Und ich freute mich aufs Sofa. Ich legte Milla also ins Bett. Sie lutschte auf dem Daumen und schloss die Augen. Ich entfernte mich. Und stolperte über einen Hausschuh. Milla hob den Kopf. Danach die Beine. Danach die Arme. Dann schlug sie alle vier Extremitäten auf die Matratze. Das machte sie fünfmal und dann fing sie an zu quengeln. Ich nahm sie wieder aus dem Bett, griff ein Buch, vielleicht schlief sie ja mit mir zusammen auf dem Sofa ein. Mit dem Buch waren wir durch. Ich holte ein zweites. Ich sang ein Lied. Ich legte sie wieder ins Bett. Und stolperte diesmal nicht. Ich beantwortete noch schnell zwei Mails und stellte eine Maschine Wäsche an und legte mich dann aufs Sofa und machte die Augen zu und hatte kalte Füße. Mit kalten Füßen konnte ich noch nie schlafen. Ich machte also eine Wärmflasche, und weil ich schonmal dabei war auch noch einen Tee, und legte mich wieder hin und machte die Augen zu und fühlte mich wohl und dachte oh Jesus, ist das geil! Und dann dauerte es keine fünf Minuten und aus dem Kinderzimmer kam hmmpfff, hmmmpffff, pffffffff, dada, gegege. Liegenbleiben war zwecklos, ich sprang also auf und fütterte den Spatz und dann am besten raus nach draussen. Regenfeste Jacke an und los. Am Nachmittag eine Verabredung, bis dahin ginge es schon noch mit den Nerven und das Danach würde mich ablenken. Wir gingen also und schnell auch noch zum Drogeriemarkt und dann musste ich mich schon fast beeilen. Als wir wieder zu Hause waren entdeckte ich die SMS.

Meine Verabredung hatte Halsschmerzen und ich damit keine Verabredung mehr. So las und sang und schaukelte und quatschte ich also bis zum Abend vor mich hin, bis Gianni vorbei kam und Milla mitnahm. Ich ging joggen, machte den Abwasch und bearbeitete die anderen drei Mails, warf die Wäsche in den Trockner und räumte die Babywippe weg. Als Milla wieder zurück war, legte ich sie ins Bett und sie schlief ein. Ich sank aufs Sofa. Regenwetter empfinde ich seither eher als ambivalent.

4. Ansonsten noch viel mehr. Im Zoo, mit Freunden, Abendessen, Grillen, auf der Wiese liegen, Oma und Opa und Nonno und Nonna, im Flugzeug, im Zug, im Auto, zu Hause, auf dem Sofa, unterm Weihnachtsbaum. Wir trafen zusammen, zu dritt oder mit noch vielen anderen oder waren zu zweit oder manchmal auch allein. Und insgesamt ging es uns gut damit. Wir wechselten uns ab, bestanden gemeinsam oder allein, teilten, tauschten, schenkten, gaben und nahmen. Und es funktionierte gut. Mal mehr und mal weniger gut. Meistens jedoch ziemlich gut.

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